„Einen Sohn habe ich, den zieht`s nach dem sonnigen Süden, wo er schon einmal im Lande der Pharaonen gelandet ist. Einen Schwiegersohn habe ich, den Marinär, der hat zweimal die Reise um die Welt gemacht und soll demnächst die dritte antreten. Sein Bruder kam erst vor wenigen Tagen aus Japan zurück, erzählt uns davon manchen Abend, ohne übrigens viel Aufhebens zu machen. So weitet sich die Welt und so engt sich der Erdball.“
Roseggers älteste Tochter Anna unternahm 1906 eine Schiffsreise nach Spitzbergen. Sie war das zweite Kind des Autors und seiner ersten Frau Anna Pichler. Wenige Tage nach ihrer Geburt am 4. März 1875 starb die Mutter an einer Bauchfellentzündung. Für Rosegger ein kaum zu verkraftender Schicksalsschlag. Jahre später hielt er fest:
„Naturgemäß ist es der ersehnte Erstgeborene, der den schwersten Stein im Brett hat, weil er Hirn und Herz der Eltern noch unbesetzt fand und sich darin das beste Plätzchen wählen und sichern konnte. Aber siehe, das Letztgeborene, es mag oft noch so unwillkommen gewesen sein, klopft nicht minder süß an das Vaterherz. Und ein Kind, dessen Leben mit dem der Mutter bezahlt werden mußte, wie rührend steht es da in seiner kleinen hilflosen Gestalt, still und bescheiden, eine lebendige Bitte um Verzeihung, daß sein Dasein das Teuerste gekostet hat. Mütter sagen, dasjenige Kind liebten sie am heißesten, für das sie am meisten gelitten hätten; so meinen vielleicht die Väter, jenes Kind sei ihnen am teuersten, welches am meisten gekostet hat.“
Anna brachte von ihren Reisen immer Andenken und andere Kleinigkeiten für die zu Hause gebliebenen Angehörigen mit. Ihren Bruder Sepp, damals schon Student der Medizin, überraschte sie einmal mit einem vollständigen menschlichen Skelett in einem Sack. Von ihrer Reise nach Spitzbergen stammt ein Souvenir, das heute im Rosegger-Museum in Krieglach zu sehen ist.

Foto: Bianca Russ-Panhofer/UMJ
Anna reiste am 14. Juli 1906 nach Leipzig, um sich dort gemeinsam mit einer Freundin auf der „Prinzessin Victoria Luise“, dem ersten als Kreuzschiff gebauten Passagierdampfer der HAPAG (Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Actien-Gesellschaft), einzuschiffen. Rosegger kommentierte die Reiselust seiner Tochter in Heimgärtners Tagebuch wie folgt:
„Ich bin aus Mitteleuropa nicht hinausgekommen. Straßburg, Amsterdam, Rügen, Breslau, Budapest, Ragusa, Neapel und Mont Cenis stehen an den Grenzen der Welt, die ich gesehen habe. Der alte Bodenständler, der außerhalb seiner steirischen Berge und Wälder nicht drei Wochen lang leben kann – in seinen Kindern wächst er weit in den Raum, wie er durch sie in die Zeit, die Zukunft wächst. So soll ich nun durch die blauen Augen meiner heiteren Tochter das nördliche Eismeer, die Eisbären von Spitzbergen, den Rotschein der Mitternachtssonne schauen!“
Zwei Wochen später berichtete er:
„Heute sitzt sie in dem nebeligen Kessel der Adventbai, mitten unter Gletschern, deren blasse Wände von den abenteuerlich geformten Spitzen und Zinnen senkrecht niederfallen in das eisgesulzte Meer. Stellenweise starrt das schwarze Gestein hervor – baumlos und graslos, nur ein wenig bemoost, an den fruchtbarsten Stellen mager bestrüppt. Bewohnerschaft: Seehunde, Eisbären, Polarfüchse und Rentiere. Und Seemöven in den frostigen grauen Lüften. … Morgen wird das Mädel umkehren und so lange fahren und fahren nach dem sonnigen Süden, bis sie angelangt sein wird in dem grünen, lieblichen Garten der Steiermark. Und dann sind wir um dreißig Breitengrade größer geworden.“
Nach ihrer Rückkehr bat Rosegger seine Tochter, ihre Erlebnisse im Heimgarten zu veröffentlichen. Mit den Leserinnen und Lesern wollte Anna ihre Erfahrungen zwar nicht teilen, hielt diese jedoch für ihren Vater in einem Reisetagebuch fest. Auf der letzten Seite widmete sie der „Prinzessin Victoria Luise“ ein schwermütiges Gedicht. Schwermütig deshalb, weil das 1900 vom Stapel gelaufene Kreuzfahrtschiff bereits 1906, nur wenige Monate nach ihrer eigenen Reise, durch einen Navigationsfehler vor Jamaica auf Grund gelaufen und gesunken war.

Anna Rosegger, Foto: UMJ
Von ihrer Reise nach Spitzbergen brachte Anna Teile eines Rentiergeweihs mit, das mit einfachen Ritzungen versehen ist. Darin versteckt sich ein kleines Messer. Dieses Souvenir befand sich bis vor Kurzem im Sterbezimmer des Dichters und wird nun im neuen Ausstellungsraum des Rosegger-Museums gezeigt.